Berufe am Puls der Zeit: Orthopädietechnik auf dem Weg in die Zukunft
Auszubildende arbeiten an der Schnittstelle zwischen Mensch und Hightech
Digitalisierung, Nachhaltigkeit, soziale Medien … unsere Lebenswirklichkeit verändert sich zurzeit in atemberaubendem Tempo. Das gilt auch für die Berufsbilder, die durch sich wandelnde Bedürfnisse und Anforderungen entstehen. In dieser Reihe stellen wir hochmoderne Ausbildungsberufe vor, die in Bremer Unternehmen und Berufsschulen angeboten werden. So arbeitet etwa die Orthopädietechnik an der Schnittstelle zwischen Mensch und High-Tech-Ergänzungen für den Körper.
HB Orthopädietechnik ist einer der größten Fachbetriebe der Branche in Bremen. Mehr als 30 Expertinnen und Experten für Orthesen, Prothesen und die Orthopädieschuhtechnik sind dort tätig. Jedes Jahr starten bis zu drei Auszubildende in die Zukunftsberufe der Orthopädiemechanik oder der Orthopädieschuhtechnik. Viele Werktische stehen in der großen Halle an der Kurt-Schumacher-Allee in der Vahr. Der Meisterbetrieb nennt den Standort sein Kompetenzzentrum. Dort modellieren die Fachleute unter anderem künstliche Extremitäten oder passen elektrische Impulsgeber für Arme und Beine an. Ein Analysezentrum und ein Sanitätshaus an der Pappelstraße in der Bremer Neustadt gehören ebenfalls zum Betrieb. Viele der Fachleute sind zudem tagtäglich im Außendienst in Reha-Kliniken, Arztpraxen und Co unterwegs.
„Das Arbeitsfeld in unserem Gewerk ist riesengroß“, sagt Leif Pahl von HB Orthopädietechnik. Die Fertigung und Anpassung von Rollstühlen, Krankenbetten, Korsetten, Bandagen, maßgefertigten Schuheinlagen und Schuhen, Prothesen (Ersatzkörperteile) und Orthesen (außen anliegende medizinische Hilfsmittel) bilden Teilbereiche des Handwerks. HB Orthopädietechnik ist auf die letztgenannten drei Felder konzentriert und nutzt dabei Hightech zur Versorgung der Patientinnen und Patienten.
Bald Alltag in der Orthopädietechnik: Computermodelle und 3D-Drucker
In einem Behandlungsraum steht ein großer Scanner auf dem Boden. Dieser scannt die Füße des Hilfesuchenden und stellt sie am PC-Monitor mit Belastungslinien, Erhebungen und Vertiefungen detailgetreu dar. Ebenfalls am PC wird dann die Schuheinlage modelliert. In der Werkstatt startet anschließend eine computergesteuerte Fräse, die die Einlage autonom zuschneidet – passgenau bis auf den Mikrometer.
Auch bei Ersatz und Hilfen nach dem Verlust von Teilen der Arme und Beine kommen solche Scanner, PC-Modellierungen und Fräsen zum Einsatz. „Diese Methode ersetzt den Gipsabdruck, den wir früher vom Stumpf gemacht haben“, so Leif Pahl. Die Fräse erstellt so zum Beispiel ein detailgetreues Modell des Beins, an den die Orthopädiemechaniker und -mechanikerinnen die Prothese oder Orthese anpassen können.
Sie legen zum Beispiel mittels Unterdruck Carbonfasern, wie sie auch in Flugzeugen Verwendung finden, über das Modell. Anschließend wird die Carbonummantelung bei hohen Temperaturen ausgehärtet. „Der nächste Schritt wäre es, das Positivmodell des Beins auszulassen und stattdessen sofort einen 3D-Drucker anzusteuern. Dieser fertigt dann die Prothese“, schildert der Fachmann aus der Bremer Orthopädietechnik eine Zukunftsvision. Er rechnet damit, dass diese Technik in wenigen Jahren zur Verfügung steht. Im Betrieb ist bereits ein großer 3D-Drucker vorhanden.
Elektrische Impulse setzen Muskeln in Bewegung
Doch das ist nur der Anfang. Die Zukunft hat in dieser Branche bereits begonnen. „Bei uns gibt es kaum noch Patientinnen und Patienten, die rein mechanische Orthesen bekommen. Die meisten erhalten elektronisch gesteuerte Hilfen. Neuroorthetik ist da ein zentraler Begriff“, erklärt Leif Pahl von der Bremer Orthopädiertechnik. Er nennt die Unterstützung bei einer Fußheberschwäche als Beispiel.
Früher wurden die Betroffenen mit einer festen Schiene ausgestattet, die den Fuß ständig im rechten Winkel zum Bein hielt. Heute rüsten die Fachleute sie mit einem unauffälligen Gerät aus, das sie mit einer Manschette an der Wade befestigen. Es gibt Nerven und Muskeln einen elektrischen Impuls, damit sich der Fuß beim Gehen im richtigen Moment hebt. „Eine solche Orthese gibt es auch für die Arme, wenn diese zum Beispiel nach einem Schlaganfall unbeweglich sind“, so Leif Pahl. Die Betroffenen können eine leichte Bewegung machen und so wie mit einem Schalter den Impuls ausgelösen. Dann schließt oder öffnet sich die Hand oder der Arm hebt und senkt sich. Durch die elektrische Stimulation ist es mit viel Glück und Geduld sogar möglich, dass sich die defekten Nerven regenerieren.
Ganzkörperanzüge – fast wie Science Fiction
Spätestens, wenn Leif Pahl den Schrank mit den orthetischen Ganzkörperanzügen öffnet, fühlt man sich an Science Fiction erinnert. Die Bodysuits sind für Menschen mit Bewegungseinschränkungen aufgrund von neurologischen Erkrankungen gedacht.
Die eingearbeiteten Elektroden stimulieren im richtigen Moment des Bewegungsablaufes Arme und Beine, sodass zum Bespiel ein ruckeliges, sehr schwerfälliges oder ungleichmäßiges Gehen in ein fließenderes Bewegungsmuster überführt wird. Der sogenannte Exopulse Mollii Suit des Herstellers Otto Bock wurde in der TV-Sendung „Höhle der Löwen“ vorgestellt und versetzt sogar den erfahrenen Fachmann Leif Pahl in Erstaunen. „Es ist krass, was man damit erreichen kann. Regelmäßiges Tragen kann sogar zu einer Verbesserung der Bewegungsabläufe ohne Anzug führen“, sagt er.
Die Teilimplantation von Prothesen ist ein weiterer Weg in die Zukunft. „Man kann zum Beispiel einen Titanstift in das Bein einsetzen lassen, an den die Prothese eingeklinkt werden kann. Man benötigt dann keinen Schaft mehr am oberen Ende“, sagt der Fachmann. „So gibt es keine Druckstellen, und die Prothese fühlt sich mehr an wie ein echtes Bein.“
Diese Endo-Exo-Prothetik wird sich seiner Meinung nach in Zukunft mit den Methoden der elektrischen Impulsgebung verbinden, sodass die Prothese eine Art Berührungsempfinden übermittelt und wie eine echte Extremität über die Nerven gesteuert werden kann. „In 20 bis 30 Jahren ist es so weit“, schätzt er.
Orthopädietechnik kann das Leben komplett verändern
Ganz gleich, wie futuristisch die Technik: Auch der Mensch selbst ist gefragt, das Beste aus den Möglichkeiten zu machen. Viele Stunden müssen die Betroffenen trainieren, um zum Beispiel mit einer Oberschenkelprothese wieder sicher gehen oder die Handprothese zum Greifen nutzen zu können. „Die Alternative zur Beinprothese ist meist nur der Rollstuhl. Das gilt auch, wenn bei der Anfertigung etwas nicht klappt. Unsere Auszubildenden müssen sich darum darauf einstellen, später viel Verantwortung zu tragen. In diesem sensiblen Beruf engagiert sich man sich für die Betroffenen und ist immer mehr Mensch als Angestellter“, hält er fest. „Unser Ziel ist, die höchste Mobilität und Lebensqualität für die Patientinnen und Patienten zu erreichen.“