Meine Favoriten

Depression
Wayhomestudio/Freepik.com

Corona-Ängste plus Winterblues – was kann ich für meine seelische Gesundheit tun?

Interview mit Dr. Martin Lison, Chefarzt der Psychiatrie am Klinikum Bremen-Ost

Die Tage sind kurz, das Wetter oft grau – und womit sich viele sonst während dieser Zeit ablenken, fällt dieses Jahr aus. Für Weihnachtsmärkte, Betriebsfeiern und Familientreffen stehen die Chancen durch die Corona-Einschränkungen schlecht. Vielen Menschen schlägt das aufs Gemüt.

Wir haben mit Dr. Martin Lison, dem Chefarzt der Psychiatrie am Klinikum Bremen-Ost, gesprochen. Der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie erklärt den „Winterblues“ aus wissenschaftlicher Sicht, erläutert, welche Sorgen Corona bei vielen auslöst, und gibt Tipps für Menschen, die die derzeitige Situation belastet.


Im Winter leiden viele Personen auch in „normalen“ Jahren an depressiven Verstimmungen. Man spricht gemeinhin vom Winter-Blues – wie sieht das aus fachlicher Sicht aus?

Antriebslos
Die saisonal abhängige Depression kann zu Antriebslosigkeit führen. Jcomp/Freepik.com

Dr. Martin Lison: Auch in Fachkreisen ist das ein bekanntes Phänomen. Früher hat man diesen depressiven Verstimmungen im Winter keinen Krankheitswert beigemessen. Das ist seit einigen Jahrzehnten anders. Etwa seit Mitte der 80er-Jahre kam es in der internationalen Klassifikation auch zu einer wissenschaftlichen Beschreibung, also Operationalisierung dieser Phänomene. Wir sprechen von der saisonal abhängigen Depression oder Seasonal Affective Disorder, abgekürzt SAD.

Sie unterscheidet sich in der Symptomatik von anderen depressiven Episoden, zum Beispiel durch mehr Müdigkeit, ein erhöhtes Schlafbedürfnis und ein erhöhtes Bedürfnis, kohlenhydrathaltige Nahrungsmittel zu sich zu nehmen. Im Einzelfall wird dabei eine Symptomschwere erreicht, die tatsächlich psychiatrisch-psychotherapeutisch behandlungsbedürftig ist.


„Man muss für sich selbst klären, inwiefern man darunter leidet, oder es als Teil der jahreszeitlichen Veränderungen annehmen.“


Was die Ursache ist, kann man nicht hundertprozentig sagen. Man geht aber heute davon aus, dass unser Gehirn – wie das Gehirn von allen anderen Tieren – auf die Umwelt reagiert, in diesem Fall auf Licht. Dieses wird beim Menschen über die Augen aufgenommen, bei anderen Tieren zum Teil direkt durch die Schädeldecke. Da spricht man von circadianen Rhythmen, dem Tag-Nacht- und Schlaf-Wach-Rhythmus. Dieser wird durch den äußeren Lichteinfall, also auch jahreszeitabhängig reguliert. Dabei gibt es wohl relativ komplizierte Regelvorgänge im Gehirn, die mit der beschriebenen Symptomatik einhergehen können: Rückzug, Antriebsmangel, erhöhtes Schlaf- und Ruhebedürfnis und einem erhöhten Appetit – vor allem auf Kohlenhydrate.

Sorge
„Große Teile der Bevölkerung sind natürlich von der Corona-Situation gestresst“, sagt Dr. Martin Lison. Jcomp/Freepik.com

Sehr schwere Ausprägungen kann man natürlich behandeln. Dafür gibt es seit Jahrzehnten in der Psychiatrie eine Lichtbehandlung. Dabei werden spezielle Lichtquellen dagegen eingesetzt. In den allermeisten Fällen ist diese Winterdepression aber eher subklinisch und nur subjektiv belastend. Da muss man dann für sich selbst klären, inwiefern man darunter leidet, oder es als Teil der jahreszeitlichen Veränderungen annehmen. Etwas weniger aktiv zu sein, ist in der Regel gar nicht so schlimm, wenn man sich damit ein bisschen anfreundet.

Momentan steigen die Fallzahlen. Die Ansteckungsgefahr wächst, gleichzeitig werden die Einschränkungen durch Corona wieder stärker. Was macht das mit den Menschen?

Dr. Martin Lison: Ein aktuelles Thema ist ja momentan, dass ein Impfstoff entwickelt und zugelassen werden soll, der auch einen sehr guten Schutz bieten soll. Dann könnte schon bald mit Impfungen begonnen werden. Ich glaube, dass das in dieser Pandemie-Situation ein neuer Impuls ist. Das wird sehr viele Leute mit Hoffnung erfüllen und Kräfte freisetzen, um diese außerordentlich belastende Zeit irgendwie auszuhalten.


„Bereits depressiv erkrankte Menschen sind belasteter und zeigen Änderungen im Verhalten.“


Angst
Für viele Menschen ist die Zeit der Corona-Pandemie und der damit einhergehenden Einschränkungen bedrohlich. Ipopba/Freepik.com

Bis dahin geht man schon davon aus, dass große Teile der Bevölkerung natürlich von der Corona-Situation gestresst sind. Es gibt mittlerweile auch aus dem deutschsprachigen Raum einige wissenschaftliche Untersuchungen. Beispielhaft möchte ich da eine interessante Untersuchung der Stiftung Deutsche Depressionshilfe nennen. Die Befragten hatten einen höheren Anteil an Depressivität als sonst. Vor allem leiden auch schon zuvor bekannte Menschen mit Depressionen unter Einschränkungen in den Behandlungsformen, etwa dem Schließen von Tageskliniken und dem Fehlen von persönlichen Angeboten. Die telemedizinischen E-Health-Angebote konnten zwar etwas substituieren, aber natürlich fehlt vielen der menschliche Kontakt.

Was auch unterschiedlich bei bereits depressiv erkrankten Menschen ist: Sie haben eine etwas höhere Ängstlichkeit vor einer Ansteckung als die Allgemeinbevölkerung. Sie sind auch mehr belastet und zeigen sogar auch Änderungen im Verhalten – im Sinne von weniger Bewegung, tagsüber mehr Zeit im Bett verbringen und einem Verlust der Tagesstruktur.

Kontakte in Bremen von der Deutschen Depressionshilfe

Hier finden Sie Informationen rund um ärztliche und therapeutische Angebote in Bremen, Kliniken, sozialpsychiatrische Dienste, kirchliche Beratungsstellen, Selbsthilfegruppen und Telefonseelsorge.

Hilfe und Beratung

Telefonseelsorge
Wer kurzfristig Beratung braucht, kann sich an die Telefonseelsorge wenden. Das Info-Telefon der Deutschen Depressionshilfe ist kostenlos unter 0800 33 44 533 erreichbar. Chinnarach/Freepik.com

Insgesamt sind natürlich die ganzen Corona-Einschränkungen und eine Bedrohung durch eine mögliche Ansteckung am ehesten wie ein Stressor aufzufassen, also eine zusätzliche Belastung. Wir wissen, dass Menschen mit unterschiedlichen Strategien auf Stress reagieren. Diese hängen häufig davon ab, was wir Ressourcen nennen. Das sind persönlichkeitsbedingte eigene Kraftquellen und andere Persönlichkeitsmerkmale.

Extrovertierte Menschen scheinen zum Beispiel besser mit der Corona-Situation umgehen zu können als eher introvertierte, was einen fast schon überrascht. Schließlich kommen bei einer Einschränkung von sozialen Kontakten die nach außen gekehrten, extrovertierten Menschen nicht so richtig auf ihre Kosten. Aber anscheinend kommen sie damit besser klar.


„Die sozial Schwachen leiden mehr als die sozial Starken.“


Winterblues
Was passiert in Sachen Corona während der Wintermonate? Diese Frage treibt momentan viele Menschen um. Olegdoroshenko/Freepik.com

Insgesamt muss man einfach abwarten, wie der Langzeitverlauf ist. Aus der Sucht wissen wir schon, dass es höhere Belastung – etwa durch lange Wartezeiten auf Langzeit-Rehaplätze – und mehr Rückfälle gab. Besonders belastete Gruppen sind Mitglieder des Pflegepersonals. Das liegt vor allem an der viel höheren Arbeitsbelastung. Gerade Personal, das auf entsprechenden Stationen eingesetzt ist, muss sich wegen der Hygienevorschriften andauernd anziehen und umziehen. Das ist körperlich anstrengend, zeitaufwendig und eine psychische Belastung.

Und es ist ja mittlerweile allgemein bekannt, dass es in Deutschland in der Intensivmedizin weniger einen Mangel an technischen Möglichkeiten gibt als ein Personalproblem. Die allermeisten Menschen im Gesundheitswesen sind es gewöhnt, mit Krankheit und Tod umzugehen. Es ist einfach zu wenig Personal da, um die teilweise sehr pflegeintensiven Patientinnen und Patienten versorgen zu können. Das ist eigentlich das, was Stress macht.

Depression
„Die Belastung durch die Corona-Pandemie und die damit verbundenen Einschränkungen sind klar sozial ungleich verteilt“, erklärt der Chefarzt der Psychiatrie. Jcomp/Freepik.com

Die Belastung durch die Corona-Pandemie und die damit verbundenen Einschränkungen sind übrigens klar sozial ungleich verteilt. Das kann man sich leicht vorstellen: Wer in beengten Wohnverhältnissen mit einer größeren Familie lebt, hat es deutlich schwerer, zur Ruhe zu kommen und sich mit den Kindern zu beschäftigen, als jemand, der in einem Haus mit Garten wohnt. Die sozial Schwachen haben auch weniger Zugriff auf Ressourcen, aber höhere Risikofaktoren für Erkrankungen. Sie können ihren Kindern vielleicht nicht so gut bei den Hausaufgaben helfen, wenn sie selbst nicht so gut gebildet sind. Sie leiden in dieser Zeit mehr als die sozial Starken.


„Es geht darum, auf sein eigenes Bauchgefühl zu hören.“


Was sind Anzeichen dafür, dass jemand mit seinen Ängsten und Sorgen nicht mehr zurechtkommt und sich Hilfe suchen sollte?

Dr. Martin Lison: Dafür ist man eigentlich selbst das beste Messgerät. Jeder kennt Phasen, in denen es einem besonders gut geht oder in denen man nicht so viel Schwung hat, vielleicht im Selbstbewusstsein ein bisschen eingeschränkt ist und nicht so ganz eins ist mit sich. Anders ist es, wenn diese eigene Befindlichkeit das normale Ausmaß, das man von sich kennt, überschreitet. Das heißt, man macht sich selbst Sorgen, kriegt vielleicht auch Angst. „Was ist mit mir los? Irgendwie bin ich ganz anders, reagiere viel schreckhafter als sonst. Ich habe gar keine Lust mehr, andere Leute zu sehen. Ich fühle mich körperlich unwohl, wenn mir andere Leute zu nahekommen.“ Dann geht es darum, auf sein eigenes Bauchgefühl zu hören.

Hausarzt
Der Hausarzt oder die Hausärztin ist oft die erste Anlaufstelle, wenn jemand professionelle Hilfe für seine psychischen Probleme sucht. Freepik

Bei den allermeisten Depressionen ist es so, dass sie selbstlimitierend sind und eine fachärztliche oder psychotherapeutische Behandlung nicht zwingend notwendig ist. Stattdessen braucht man ein bisschen Mut, Zuspruch und Geduld, dass es von selbst weggeht. Aber wenn ein gewisses Maß an Behandlungsbedürftigkeit erreicht ist, dann ist natürlich eine professionelle Unterstützung extrem wichtig.

Ein erster Schritt wäre, im Internet nachzulesen oder eine Telefonhotline anzurufen. Betroffene können sich auch an die Hausarztpraxis wenden. Die Hausärztinnen und -ärzte sind, was das Thema psychische Erkrankungen angeht, grundlegend ausgebildet. Statistisch sind sie schließlich die häufigste erste Anlaufstelle. Im letzten Schritt geht es zu unseren Behandlungszentren, zu niedergelassenen Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten sowie Facharztpraxen.


„Jeder sollte nach innen gucken, was ihm guttut.“


Was raten Sie Menschen, um Ängsten vorzubeugen oder mit ihnen besser umgehen zu können?

Spaziergang
Ein Spaziergang durch die Natur kann die Stimmung aufhellen. Wirestock/Freepik.com

Dr. Martin Lison: Auch da ist unser „Zauberwort“ das Thema Ressourcen. Das Wort kommt vom Begriff „Quelle“. Man macht sich also auf die Suche nach inneren Kraftquellen und beschäftigt sich mit Dingen, die einem früher im Leben gutgetan haben. Das kann so etwas sein wie Spielen, Gartenarbeit, Lesen, Basteln, Musik oder Sport, soweit das möglich ist. Da gibt es kein Richtig und Falsch, sondern das ist eine individuelle Angelegenheit. Jeder sollte nach innen gucken, was ihm guttut – ob es ein Waldspaziergang ist oder ein Puzzle.

Das sind alles Strategien, um die Zeit, in der wir jetzt leben, anders ausfüllen zu können als mit den üblichen Sachen, die jetzt eigentlich anstünden wie Weihnachtsfeiern. Gerade im Frühling haben wir auch gesehen, dass viele Menschen die Zeit genutzt haben, um einmal aufzuräumen, Papierkram zu ordnen, den Keller auszumisten. Das sind Dinge, die einem allgemein guttun – und man hat das Gefühl, die schwierige Zeit sinnvoll füllen zu können.

Seelische Gesundheit und das Corona-Virus

Gesundheit Nord hat Informationen und Kontaktdaten zum Thema „Seelische Gesundheit und das Corona-Virus“ zusammengestellt.

Kontakte und Informationen

Das könnte Sie auch interessieren

Autorenbild Alena Mumme

Von Alena Mumme

Ich bin Tagenbaren – meine Eltern und Großeltern sind also wie ich in Bremen geboren und aufgewachsen. Nur spannende Reisen locken mich aus meiner gemütlichen Heimatstadt.

Mehr Artikel von Alena

Nutz doch die SPOT App!