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Wand im Büro der Zeitschrift der Straße mit alten AUsgaben
Sarah Meyer

„Die Zeitschrift der Straße“ – mehr als ein Magazin

Projekt vom Verein für Innere Mission Bremen

Es gibt sie in jeder großen Stadt: die Straßenzeitung. Doch in Bremen ist sie etwas ganz Besonderes. Denn das Sozial- und Lernprojekt wird in Zusammenarbeit mit der Hochschule Bremerhaven und der Universität Bremen inhaltlich von Studierenden befüllt. Wir haben uns mit zwei Verantwortlichen vom Verein für Innere Mission Bremen getroffen und mehr über das außergewöhnliche Magazin erfahren. Rüdiger Mantei hat die Leitung des Café Papagei und Streetwork in Bremen inne und ist seit Jahren fester Bestandteil bei der Magazinarbeit. Axel Brase-Wentzell ist stellvertretender Bereichsleiter der Wohnungslosenhilfe des Vereins für Innere Mission Bremen und Mitbegründer der „Zeitschrift der Straße“.


Wie kam das Projekt zustande?

Axel Brase-Wentzell: Das Projekt startete damals mit Professor Dr. Michael Vogel von der Hochschule Bremerhaven. Er war für die Studierenden im Bereich Seetouristik zuständig, die später auf Kreuzfahrtschiffen im Management oder Marketing aktiv sein würden. Und er holte auch die Hochschule für Künste Bremen (HFK) mit ins Boot. Das erste Kennenlernen fand seinerzeit noch an einem anderen Standort statt. Alle Parteien waren sofort Feuer und Flamme. Die Professorin von der HFK sprudelte über vor Ideen und plante, das Magazin für diverse Designpreise vorzuschlagen. So kam es am Ende auch – wir gewannen mit der „Zeitschrift der Straße“ einige Preise. Unser Projekt ist etwas völlig anderes als jede andere Straßenzeitschrift in Deutschland. Aber über die Jahre hat sich das Projekt verändert, und unsere Zeitschrift ist anders geworden.


„Von Anfang an eine reine Herzensangelegenheit“


Rüdiger Mantei: Der Start war einerseits natürlich auch schwierig, weil solche Projekte Geld kosten – vor allem die Druckkosten sind enorm. Wir sind mit einem Budget von 0 Euro gestartet. Professor Vogel konnte durch seine Kontakte dann etwas Geld organisieren – und auch persönlich hat er investiert, weil es für ihn von Anfang an eine reine Herzensangelegenheit war.

Axel Brase-Wentzell und Rüdiger Mantei vom Verein für Innere Mission Bremen
Axel Brase-Wentzell (links) und Rüdiger Mantei im Vertriebsbüro der „Zeitschrift der Straße“. Verein für Innere Mission Bremen

Es stellten sich dann die Fragen: Wer schreibt die Texte? Wer macht die Bilder? Von der Idee zum fertigen Produkt brauchte es seine Zeit. Es war nicht einfach, bis die erste Zeitschrift, damals noch „Sielwall“, auf dem Markt war. Die Hochschule für Künste hat das Design gestaltet, und das Inhaltliche hat damals eine externe Redaktion in Zusammenarbeit mit Studierenden gemacht. Das Marketing wurde beispielsweise von den Studierenden der Hochschule Bremerhaven übernommen.


„Das war erst einmal ein kleiner Schock.“


In der „Zeitschrift der Straße“ geht es inhaltlich nicht primär um Armut, wie es häufig bei anderen Straßenzeitungen der Fall ist. Uns ging es immer darum, die Stadt vorzustellen: Straßen, Plätze, Orte. Da gibt es manchmal Themen, die von Armut geprägt sind, aber manchmal auch ganz bewusst von Reichtum.

2011 startete das Projekt. 2015 gab es dann eine Überwerfung mit der Hochschule für Künste, die sich aus dem Projekt rausgezogen und uns auch die Rechte am Design entzogen hat. Das war erst einmal ein kleiner Schock, und wir wussten nicht genau, wie es weitergeht. Denn ohne Design gibt es auch keine Zeitschrift.

Wir sind schließlich auf die Idee gekommen, eine Ausschreibung für ein neues Design zu machen und diese mit 15.000 Euro zu dotieren. Es erreichten uns Entwürfe aus der ganzen Welt. Mit denen haben wir eine große Ausstellung gemacht und alle abstimmen lassen. Gewonnen hat schließlich ein Designer von den Philippinen. Das Logo wurde noch einmal separat ausgeschrieben und mit 5000 Euro dotiert. Da hat jemand aus London den besten Vorschlag geliefert und den Preis gewonnen. Das Format ist in der ganzen Zeit aber gleich geblieben – und das ist uns auch wichtig.

Einige Dinge mussten wir allerdings doch verändern, beispielsweise das Papier. Es ist in der letzten Zeit um ein Vielfaches teurer geworden. Wir mussten daher leider auf unser 100 Prozent recycelbares Papier verzichten und auf eine andere ökologische Variante ausweichen.


„Leute aus unserer Redaktion haben einfach irgendwo geklingelt und gefragt, ob sie dort übernachten können.“


Welche Themen behandelt die Zeitschrift?

Mantei: Wir nehmen Themen auf, die in der jeweiligen Straße vorkommen. In der letzten Ausgabe ging es beispielsweise um den Helene-Kaisen-Weg. Die Redaktionsmitarbeitenden gehen durch die Straße, sprechen Menschen an, die dort wohnen oder arbeiten, und versuchen, Geschichten zu erfahren. Wir haben sogar schon mal einen „Couch Surfing“-Beitrag gemacht. Da haben Leute aus unserer Redaktion einfach irgendwo geklingelt und gefragt, ob sie dort übernachten können. Dabei sind tolle Geschichten entstanden.

Die ersten Ausgaben der Straßenzeitung im Büro ausgestellt
Die ersten Ausgaben der Zeitschrift der Straße sind immer noch im Büro ausgestellt. Auch alte Ausgaben können noch verkauft werden. Sarah Meyer

Brase-Wentzell: Professor Vogel wurde selbst oft auf Reisen von Straßenzeitungsverkäufern angesprochen und es waren immer armutsgeprägte Magazine, die man gegebenenfalls nicht primär wegen des Inhalts kauft. Wir wollen aber Menschen mit unseren Themen begeistern, die nicht vorrangig mit Armut zu tun haben, und gleichzeitig als soziales Projekt Verkäuferinnen und Verkäufern die Möglichkeit bieten, sich Geld hinzuzuverdienen. Wir sind damals mit einem sehr hohen Niveau der „Zeitschrift der Straße“ gestartet. Es gab raffinierte Abreißmöglichkeiten am Falz zur schnelleren Themenübersicht in der Ausgabe. Da mussten wir uns aber irgendwann die Frage stellen, ob die Leserinnen und Leser das denn überhaupt nutzen und ob das noch sinnvoll ist. So einen Falz gibt es schon lange nicht mehr.


„Für die ‚Zeitschrift der Straße‘ schreiben können grundsätzlich alle.“


Wie läuft die redaktionelle Arbeit?

Mantei: Wichtig war uns von Anfang an, dass es sich um ein Sozial- und Lernprojekt handelt. Studierende können lernen, wie man journalistisch schreibt – und sich vor allem auch an journalistische Vorgaben hält. Der Chefredakteur bringt den Studierenden also bei, wie Texte kurz und prägnant geschrieben werden. Aktuell haben wir etwa 20 bis 25 Schreibende. Früher kamen die Studierenden hauptsächlich aus dem journalistischen Bereich, den Studiengang gibt es aber nicht mehr in Bremen. Heute kommen sie zum Beispiel aus den Bereichen Kulturwissenschaft und Germanistik. Dort werden sogenannte Schreibwerkstätten angeboten. Mitmachen und für die „Zeitschrift der Straße“ schreiben können aber grundsätzlich alle. Egal, ob obdachlos, in Rente, Bürgerin, Bürger oder einfach interessiert – alle können sich beteiligen. Unsere Fotografinnen und Fotografen sind beispielsweise Rentnerinnen und Rentner, die vor dem Ruhestand professionelle Fotos gemacht haben.


„Die Redakteurinnen und Redakteure sind immer zu zweit unterwegs.“


Einmal im Jahr gibt es eine Sitzung der Redaktion, in der die Jahresplanung für die zehn Ausgaben gemacht wird. Dort werden die nächsten Straßen, Plätze und Orte festgelegt. Vier bis fünf Mal im Jahr gibt es dann noch Leitungsrunden, in denen die Innere Mission als Inhaberin der Zeitschrift auch mit vertreten ist. Und für jede Ausgabe wird noch eine Redaktionssitzung veranstaltet, in denen entschieden wird, welche Teams in welche Straßen gehen, und so weiter. Die Redakteurinnen und Redakteure sind grundsätzlich immer zu zweit unterwegs.

Ziel ist es, dass die Chefredaktion so wenig wie möglich selbst schreibt und der Inhalt komplett von den Studierenden oder von Freiwilligen kommt. Wir als Innere Mission halten uns in der Redaktion komplett raus, sonst wäre es eine Betriebszeitung und keine Straßenzeitschrift. Wenn es mal Probleme gibt, sind wir natürlich da und unterstützen. Im letzten Jahr gab es beispielsweise einige Schwierigkeiten nach einem Beitrag über die jüdische Gemeinde – was uns selbst sehr überrascht hat. Da kam unsere interne Unternehmenskommunikation zum Einsatz und steuerte gegen. Wir berichten aber weiterhin über die Themen, die wir als berichtenswert erachten.

Brase-Wentzell: Wichtig ist an dieser Stelle noch, dass die „Zeitschrift der Straße“ kein politisches Magazin ist. Wir versuchen mit der Zeitschrift der Straße keine Wohnungslosenhilfe-Politik zu betreiben – weder wir als Verein noch als Fachleute. Aber wenn es Kritik oder Beschwerden im Rahmen der „Zeitschrift der Straße“ gibt, betrifft dies auch immer den Verein für Innere Mission in Bremen und die Wohnungslosenhilfe. Die Balance zu finden, ist da nicht immer ganz einfach.


„Aktuell gibt es in Bremen insgesamt 90 bis 100 aktive Verkäuferinnen und Verkäufer.“


Büro der Straßenzeitung von außen
Im Vertriebsbüro holen die Verkäuferinnen und Verkäufer die Straßenzeitung ab. Sarah Meyer

Wer verkauft die Zeitschrift der Straße?

Mantei: Es verkaufen vor allem wohnungs- und obdachlose Menschen die „Zeitschrift der Straße“. Aktuell haben wir viele Rumäninnen und Rumänen, die das Magazin vertreiben. EU-zugewanderte Menschen bekommen kein Geld vom Staat und haben auch keine Krankenversicherung. Sie verdienen also mit dem Verkauf wenigstens ein bisschen Geld. Ihr Verkaufsverhalten wird aber oft als eher aggressiv beschrieben. Das liegt einerseits daran, dass sie wirklich auf das Geld angewiesen sind – sie bekommen keinen Cent vom Staat. Und andererseits kommen sie aus einem anderen Kulturkreis – und haben eine andere Mentalität. Es ist nicht immer ganz einfach, den Verkäufern und Verkäuferinnen dann zu erklären, dass die Kultur in Deutschland eine andere ist und potenzielle Käufer und Käuferinnen lieber selbst auf die Verkäufer und Verkäuferinnen zugehen möchten.

Die Ausgaben kosten auf der Straße 2,80 Euro. Davon verdienen die Verkäuferinnen und Verkäufer 1,40 Euro pro veräußertem Exemplar. Der Rest geht an uns, um die laufenden Projektkosten zu decken. Wobei das in der Regel nie ausreicht. Wer verkauft, holt sich nach Bedarf die Ausgaben aus unserem Vertriebsbüro und zahlt nur 1,40 Euro dafür. Dort sitzen immer zwei Ehrenamtliche, die die Magazine ausgeben. Insgesamt sind im Vertriebsbüro etwa 25 Menschen tätig. Die Ausgabe ist montags bis freitags von 10 bis 13 Uhr – und am Montagnachmittag von 13 bis 16 Uhr. Insgesamt 90 bis 100 aktive Verkäuferinnen und Verkäufer gibt es aktuell in Bremen. Gelistet sind aber weitaus mehr, etwa um die 1000.


„Auch viele langjährige Bremerinnen und Bremer entdecken immer wieder neue Dinge.“


Wer ist die primäre Zielgruppe?

Mantei: Grundsätzlich sind alle Bürgerinnen und Bürger der Stadt unsere Zielgruppe. Wir haben schon oft Nachrichten von frisch Zugezogenen bekommen, wie begeistert sie von der „Zeitschrift der Straße“ sind und wie gut man damit die Stadt kennenlernt. Aber auch viele langjährige Bremerinnen und Bremer entdecken immer wieder neue Dinge in den vorgestellten Straßen. Einige Menschen hingegen kaufen die Zeitschrift, um den Verkäuferinnen und Verkäufern eine Spende zu geben und ihnen etwas Gutes zu tun.

Welche Herausforderungen und Probleme gibt es bei der täglichen Arbeit?

Mantei: Das sind vor allem finanzielle Probleme. Die größte Posten in diesem Projekt sind die Druckkosten. Wir überlegen aktuell, ob wir uns diese pro Ausgabe sponsern lassen. Das heißt, ein Sponsor oder eine Sponsorin würde die gesamten Druckkosten der Ausgabe übernehmen und dann im Magazin erwähnt werden.

Was können wir von den nächsten Ausgaben erwarten?

Mantei: Es gibt dieses Jahr zum ersten Mal zwei Sonderausgaben. Die eine behandelt das Thema Leerstand. Dabei geht es um die Wohnungsleerstände in Bremen. Bei der zweiten Sonderausgabe müssen sich die Leser und Leserinnen noch überraschen lassen.

Wer jetzt Lust bekommen hat, sich ehrenamtlich bei dem Sozial- und Lernprojekt zu beteiligen, kann sich auf Internetseite der „Zeitschrift der Straße“ informieren und sich beim Team melden. Mitmachen können alle Interessierten!

Von Sarah Meyer

Als waschechtes Küstenkind liebe ich alles, was der Norden zu bieten hat. Vor einigen Jahren zog es mich von der Wurster Nordseeküste in die Hansestadt – und jetzt schlägt mein Herz für die Weser.

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