
Die Lebensgeschichte der Autorin Jutta Reichelt
„Mein Leben war nicht, wie es war“
Die eigene Lebensgeschichte? Wie erzählt man sie? „Wenn mich jemand gefragt hat, wer ich bin, konnte ich nicht antworten“, erinnert sich Jutta Reichelt. Dabei hat sich die Bremer Buchautorin immer mit ihrem Leben beschäftigt, aber eben nur unterbewusst. Sie konnte lange nicht begreifen, warum es ihr so schwerfiel, ihr eigenes Leben in Worte zu fassen. Denn eigentlich dachte sie, dass in ihrer Kindheit alles „völlig normal“ war. Dass aber genau das Gegenteil der Fall war, hat sie viele Jahre verdrängt.
Wie ich war

Jutta Reichelt beschreibt sich selbst als gute Schülerin, die in ihrer Freizeit Volleyball im Verein gespielt hat, die Schülersprecherin war und viele Freunde und Freundinnen hatte, die gerne zu ihr nach Hause kamen. Nach dem Abitur wollte sie als Au Pair ins Ausland gehen. Das war ihr Plan. Doch als sich dieser kurzfristig zerschlug, hatte die junge Frau auf einmal Zeit: viel Zeit zum Nachdenken. „Als kleines Kind habe ich angefangen, Selbstgespräche zu führen. Doch als ich auf einmal allein mit mir und meiner Zeit war, nahmen diese überhand. Ich konnte die von mir nicht zu beeinflussende Zwanghaftigkeit der Selbstgespräche selbst nicht mehr ertragen“, berichtet die Autorin rückblickend. Sie begann Therapiegespräche. Langsam entdeckte sie, dass ihr Leben eben nicht so war, wie es war oder wie es sein sollte.
Auf der Suche
Schriftstellerin zu werden, hatte Jutta Reichelt gar nicht vor. Sie studierte zunächst Jura, später Soziologie in Bremen. Doch beides konnte sie nicht beenden. „Ich empfand die Lage damals als aussichtslos und mich als disziplinlos. Ich konnte mich einfach nicht auf das Anfertigen der Hausarbeiten konzentrieren“, erzählt sie weiter. „Kurzentschlossen erklärte ich meinem Umfeld daraufhin, dass ich jetzt Schriftstellerin werden würde. Sicherlich war dies eine Art Flucht, denn so hatte ich ein Jahr gewonnen, in dem mir niemand über die Schulter schauen konnte“, sagt sie.

Mit Sprache konnte Jutta Reichelt umgehen, geschrieben hatte sie aber bis dato noch nichts. Sie besaß viele Bücher und war eine begeisterte Leserin. Aber ob sie genug Fantasie hätte, um ein eigenes Buch zu schreiben? „Erst als ich im Sommerurlaub den Briefwechsel zwischen Thomas und Heinrich Mann gelesen hatte und erfuhr, dass die Figuren in ihren Romanen reale Vorbilder hatten, bekam ich das Gefühl, es probieren zu können“, so die Autorin.
Es entstanden ihre ersten Texte. 2007 kam der Kurzgeschichtenband „Zufälle“ heraus, 2008 der Roman „Nebenfolgen“, 2014 die Erzählungen mit dem Titel „Es wäre schön“ und 2015 „Wiederholte Verdächtigungen“. In allen Texten geht es um Menschen, die sich selbst ein Rätsel sind, ihre eigene Vergangenheit nicht gut kennen, oder die kleine Ereignisse aus der Bahn zu werfen drohen. Allerdings halfen Jutta Reichelt diese Werke nicht, um Antworten auf die Fragen bei der Suche nach ihrer eigenen Lebensgeschichte zu finden.
Alles braucht seine Zeit

Im Herbst 2024 war es dann so weit. Jutta Reichelt veröffentlichte ihre eigene Lebensgeschichte „Mein Leben war nicht, wie es war“. Knapp zehn Jahre hat sie daran gearbeitet. Viele Faktoren wie Therapien, das Lesen von Büchern und der Austausch mit anderen haben diesen Schreibprozess gefördert.
„Das Schreiben ist eine wunderbare Gelegenheit, Fragen nachzugehen.“
Heute weiß sie, dass man eine Lebensgeschichte erst erzählen kann, wenn man verstanden hat, was passiert ist. Durch das Schreiben sei es leichter geworden, die erlebte Gefühlskälte ihrer Eltern und die sexuellen Übergriffe ihres Vaters in Worte zu fassen. Mit dem Buch möchte Jutta Reichelt erreichen, dass es für Betroffene, Angehörige und alle Menschen normaler wird, über dieses Thema zu sprechen. Es ist ihr wichtig, dass – wie Gisele Pelicot es formuliert hat – die Scham die Seite wechsle.
Schreiben kann man lernen, aber vor allem muss man es tun
Die Wahlbremerin liebt neben dem Schreiben Schreib-Workshops. „Andere beim Schreibprozess zu unterstützen, ist eine schöne und befriedigende Arbeit“, erklärt die Autorin, die Bremen inzwischen als ihre Heimat sieht und ein großer Werderfan ist.
In der „Offenen Schreibzeit“, einem Projekt in Zusammenarbeit mit dem Bremer Literaturkontor, lädt Jutta Reichelt alle ein, die gerne schreiben wollen. Vom Krimi bis zur Autobiografie – alle, mit oder ohne Schreiberfahrung, sind herzlich willkommen, sich auszuprobieren. Wer neugierig geworden ist, findet weitere Informationen auf der Website des Literaturkontors Bremen.
Autorin: Daniela Conrady
Wer Lust hat, mehr über Jutta Reichelt zu erfahren, hört in den Podcast des Bremer Literaturkontors „Schreibgespräche“ herein. Hautnah kann man Jutta Reichelt dann am Mittwoch, 19. März 2025, um 20 Uhr im Buchladen Ostertor bei ihrer Lesung erleben.
- Bücher von Jutta Reichelt:
- „Es wäre schön.“ Erzählungen, Logbuch Verlag, 2014
- „Wiederholte Verdächtigungen“ Roman, Klöpfer & Meyer, 2015
- „Blaumeier oder der Möglichkeitssinn“ Bremen 2020
- „Mein Leben war nicht, wie es war“ Essay, Kröner, Stuttgart 2024
Mehr Informationen zu weiteren Workshops, Projekten und Terminen sowie über Jutta Reichelt gibt es unter Juttareichelt.com.