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Mario Neumann hält ein Schild mit der Aufschrift "Eine Stunde reden?"
Radio Bremen/Patrick Schulze

Bremen-Zwei-Podcast: „Eine Stunde reden“

Gewöhnliche Menschen mit außergewöhnlichen Geschichten

„Eine Stunde reden“ – so heißt der Bremen-Zwei-Podcast von und mit Mario Neumann. Der Gewinner des „Deutschen Radiopreises“ 2019 macht den Namen dort zum Programm. Das Besondere an diesem Format: Zu Gast sind keine bekannten Stimmen, sondern ganz zufällige Menschen aus Bremen und umzu. Wie dieses Format zustande kam, weiß Nicole Ritterbusch, die die Idee dazu hatte. Welche spannenden Geschichten die Menschen zu berichten haben, erzählt uns der Host Mario Neumann im Interview – und auch, wie es zu der Nominierung für den „Deutschen Radiopreis“ 2023 kam.


Was hat Sie dazu inspiriert, den Podcast „Eine Stunde reden“ zu starten – und welche Ziele haben Sie sich damit gesetzt?

Mario Neumann: Das Format lief zuest in der Radiosendung „Gesprächszeit“ von Bremen Zwei. Seit 2019 wurde „Eine Stunde reden“ einmal im Monat gesendet. Den Podcast gibt es seit Januar 2021, alle zwei Wochen erscheint eine neue Folge.  Das Prinzip ist seitdem dasselbe. Unsere Redakteurin Nicole Ritterbusch war der Meinung, dass es zu viele „wichtige“ Leute gibt, die man immer irgendwo hört. Was aber ist mit den „ganz normalen“ Menschen?


„Ich bin der Überzeugung, dass das Leben einfach die besten Geschichten schreibt.“


Nicole Ritterbusch: Die Inspiration war das echte Leben. Ich habe mich oft gefragt – wenn ich in der Straßenbahn, beim Bäcker oder im Sportstudio war und Gesprächsfragmente von Leuten mitbekommen habe, die interessant, besonders, oder traurig erschienen –, wie wohl das Leben dieser Menschen aussieht. Wie sie wohnen, wie sie arbeiten, wen sie lieben, welche Träume sie haben, welchen Kummer und welche Wendepunkte es in ihrem Leben gab. Von der Farbe der Tapete, den kleinen bis hin zu den ganz großen Themen des Lebens: Werte, Familie, Glauben … Was macht man zum Beispiel mit einer Million Euro? Außerdem wollte ich gern ein Gegengewicht setzen zu unseren anderen Sendungen, also „Gesprächszeiten“, die immer bis ins Kleinste vorbereitet sind – und somit auch mal ein maximales Risiko eingehen. Einfach jemanden mit ins Studio nehmen, über den der Moderator, der Host und auch die Redaktion nichts weiß. Ich bin außerdem der tiefen Überzeugung, dass das Leben einfach die besten Geschichten schreibt.


„Ich bewundere alle, die sich auf dieses Experiment einlassen und bei uns mitmachen.“


Macht das den Podcast so besonders?

Mario Neumann spricht eine Passantin an
Mario Neumann spricht zufällige Passantinnen und Passanten an, ob sie Interesse an einer Stunde reden haben. Radio Bremen/Lasse Cegiolka

Mario Neumann: Ja, auf jeden Fall. Es kommen Menschen wie du und ich zu Wort. Diese „ganz normalen Leute“ planen nicht, etwas im Radio zu erzählen – und trotzdem haben sie genug Mut, um sich auf dieses Abenteuer einzulassen. Wenn ich draußen mit meinem Schild stehe, auf dem nur „Eine Stunde reden?“ steht, erhalte ich ganz unterschiedliche Reaktionen. Die Standardfrage ist auf jeden Fall: „Worüber denn?“ Dazu sage ich dann immer, dass „Sie und Ihre Anliegen“ das Thema sind. Es ist jedes Mal wieder eine Überraschung, was dann kommt – auch im Studio. Es sind Leute dabei, die sehr gut erzählen können, einige haben dagegen darin nicht so viel Übung. Ich bewundere aber alle, die sich auf dieses kleine Experiment einlassen und bei uns mitmachen.

Das Format bedarf auf jeden Fall eines Vertrauensvorschusses – in beide Richtungen. Im Fokus steht das Eintauchen in die subjektive Realität eines Menschen. Das sind dann nicht immer Themen, die alle ansprechen, und das müssen sie auch nicht. Wir hatten beispielsweise während der Pandemie Menschen bei uns, die einen sehr kritischen Blick auf die Situation hatten. Das wird bei uns in der Redaktion auch diskutiert. Aber zunächst geht es um die subjektiven Ansichten des jeweiligen Menschen. Ich als Host distanziere mich dann, lasse die Meinung aber als solche stehen. Und wir hatten bisher noch nie den Fall, dass wir eine Folge aufgrund von Meinungsbildern oder anderen Kontroversen nicht senden konnten.

Können Sie uns einige Ihrer denkwürdigsten Interviews aus dem Podcast nennen und warum sie Ihnen in Erinnerung geblieben sind?

Mario Neumann: Wir hatten einmal einen Menschen bei uns, der sagte, dass er fünf Jahre zu Unrecht im Gefängnis gesessen hat, wegen Beihilfe zum Mord. Daraufhin haben wir die Sachlage noch einmal überprüft, ob das wirklich so gewesen ist. Dabei haben wir sogar Einzelheiten erfahren, die hat uns die Person nicht erzählt hatte. Das ist absolut legitim – unsere Gäste müssen uns natürlich nicht alles sagen. Jede und jeder entscheidet ganz allein, was er oder sie uns preisgeben möchte.


„Manche Themen gehen mir sehr nahe.“


Es gab auch Themen wie häusliche Gewalt – eigentlich ein Tabuthema, über das niemand gern spricht. Ebenso hatten wir Geschichten, in denen es um schlimme Erlebnisse geht, die jungen Menschen widerfahren sind. Sowas geht mir sehr nahe. Ich weiß noch ganz genau, wie ich mich damals gefühlt habe, als ich das erste Mal mit einem Menschen gesprochen habe, der mir erzählte, wie er verprügelt wurde, genauso wie an das Gespräch mit einem nicht trockenen Alkoholiker. Er berichtete davon, dass viele seiner Bekannten dem Alkoholismus erlegen sind. Das sind teilweise schon sehr bewegende Situationen und Gespräche. Sicherlich gibt es auch mal Positionen und Aussagen, an denen man sich reibt, aber das gehört nun mal dazu.

Gibt es besondere Herausforderungen bei dem Podcast?

Mario Neumann: Ganz wichtig ist, dass ich beziehungsweise meine eigene Meinung keine Rolle spielt. Ich stelle die Fragen, höre zu und tauche unvoreingenommen in die Gespräche ein. Es gibt unter anderem die Abmachung, dass ich vorher nicht nach dem Namen der Person im Internet suche. Wir probieren, die Aufnahme möglichst zeitnah zur ersten Begegnung umzusetzen, aber das ist leider nicht immer machbar. Manchmal dauert es ein bis zwei Tage, bis das Studio frei ist.


„Ich habe gelernt, auch mal kritisch auf Distanz zu gehen.“


Außerdem habe ich während meiner Zeit als Host bei „Eine Stunde reden“ gelernt, auch mal kritisch auf Distanz zu gehen – und das meine ich im positiven Sinne. Ich erinnere mich beispielsweise an zwei Gespräche mit Systemsprengern, also Jugendlichen, die durch viele Sozialeinrichtungen gegangen sind. Als mir der erste Systemsprenger damals von kriminellen Taten erzählte und dass er damit nie jemandem schade außer reichen Menschen, war das seine Wahrnehmung und Version. Dass es vielleicht auch noch andere Unbeteiligte in diesen Kontexten gab, wie Kinder, habe ich für mich erst im Nachhinein verstanden und einordnen können. Da konnte ich beispielsweise im Gespräch mit dem zweiten Systemsprenger zu einem späteren Zeitpunkt anders agieren und reagieren.

Das Thema Tod für ist für viele Leute sehr wichtig und beschäftigt sie. Es wird in vielen Gesprächen thematisiert und ist zentral für die meisten – einen Menschen zu verlieren, ist eine berührende Angelegenheit. Überrascht hat mich auch, dass es doch so viele besondere Herausforderungen im Leben so vieler „ganz normaler“ Personen gibt. Alle haben etwas, das sie beschäftigt.


„Wir sind nach und nach immer tiefer in ihre Biografie und ins Thema eingetaucht.“


Was bedeutet Ihnen die Nominierung zum „Deutschen Radiopreis“ 2023?

Mario Neumann: Ich bin absolut überwältigt. Die Redaktion hat entschieden, das jetzt nominierte Interview beziehungsweise die Folge einzureichen. Viel weiter nach oben geht es dann für mich gar nicht mehr. Dort überhaupt noch einmal in die Auswahl zu kommen, ist schon eine große Ehre. Nach der offiziellen Nominierung habe ich die Folge erneut abgespielt und das erste Mal selbst herausgehört, wie sehr ich dort „arbeite“. Es war eine junge Frau, und sie zählte eher zu den wortkargen Menschen. Wir sind nach und nach aber immer tiefer in ihre Biografie und ins Thema eingetaucht. Das war auf jeden Fall eine besondere Folge und ein intensives Gespräch. An dieser Stelle auch ein großes Dankeschön an das gesamte Team. Denn ohne dieses wäre all das niemals möglich.

Außerdem freue ich mich über die Nominierung, weil das bedeutet, dass unser Podcast ein bisschen mehr Aufmerksamkeit bekommt. Die Folgen laufen nicht bei Spotify, sondern nur in der ARD Audiothek, auf der Bremen-Zwei-Website und auf iTunes. Wenn wir jetzt etwas zusätzliche Reichweite bekommen, ist das total klasse!

Die Verleihung des „Deutschen Radiopreises“ 2023 findet am 7. September in Hamburg statt und wird im Radio übertragen. Zu streamen ist die Gala über die Website.

Von Sarah Meyer

Als waschechtes Küstenkind liebe ich alles, was der Norden zu bieten hat. Vor einigen Jahren zog es mich von der Wurster Nordseeküste in die Hansestadt – und jetzt schlägt mein Herz für die Weser.

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